Am Ziel von Tour & Traum (Tag 78)

Fünf Minuten. Für etwa fünf Minuten denke ich nicht an meine ausgelaugten Beine. Nicht an die Blasen an meinen Handinnenflächen. Und ich verschwende auch keine Gedanken an mein Schlafdefizit, an die Uhrzeit, das Wetter, oder an meinen morgigen Flug. Fünf Minuten lang ist es mir gegönnt, einfach nur das sanfte Pedalieren zu genießen.

Denn gewissermaßen fahre ich momentan über die längste Ziellinie der Welt: Zwei Kilometer ist sie lang, sie verbindet Sausalito und San Francisco miteinander, und ist berühmt für ihren dunkelroten Farbton. Diese Zieleinfahrt, über die Golden Gate Bridge, werde ich nicht vergessen. Denn es ist vermutlich die leichteste meines Lebens – und mit Sicherheit die schönste.

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Und der Schlussspurt nach zehn Wochen Radttour fühlt sich wohl auch deshalb so gut an, weil er der bestmögliche Beweis dafür ist, dass mein Plan aufgegangen zu sein scheint. Zumindest größtenteils: Denn es gelang mir wie geplant, gegen Abend San Francisco zu erreichen. Zwei Fahrstunden später jedoch sah ich mich gezwungen, für einige Stationen einen Zug zu nehmen. Nur so konnte ich vor der Nacht zu meinem Kumpel im südlich gelegenen Palo Alto gelangen, wo ich schließlich um 23:50 Uhr eintreffen sollte. Ziemlich spät, ziemlich gebeutelt – aber auch ziemlich glücklich.

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Von den ursprünglich geplanten 1250 Kilometer müssen folglich rund 30 abgerechnet werden – etwa 1220 habe ich auf meinem letzten Etappenabschnitt zurückgelegt. Und das lassen mich meine Waden mittlerweile auch deutlich spüren…

Dass es heute trotz meines enorm frühen Starts abermals später wurde als erwartet, lag an zwei Plattfüßen, Umleitungen an Baustellen – und vielleicht auch an meiner nicht ganz geringen gestrigen Vorbelastung.

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Diese Distanz - in Kilometern - durfte/musste/sollte/konnte ich heute bis SF zurücklegen

Am meisten zu schaffen machte mir aber zweifellos der Verkehr, der umso brutaler wurde, je näher ich den Toren San Franciscos kam. Symptomatisch war die Reaktion zweier Sicherheitsbeamter, welche ich im rund 30 Kilometer nördlich von SF gelegenen St. Rafael ansprach:
„Die Golden Gate Bridge? Nun, also: Man kann die Brücke auf jeden Fall mit dem Fahrrad befahren“, erklärte einer der beiden, „aber ich weiß nicht, ob es einen Weg gibt, der von hier aus dorthin führt.“

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Während ich mich fragte, wie genau sich die beiden Herren dieses Mysterium vorstellten (per Hubschrauber auf der Brücke absetzen lassen, um sie zu befahren? Per Boot hinfahren, und – mit dem Rad – die Brücke hinaufklettern, um sie sodann zu überqueren? Schieben? Beamen?), wollte ich mir andererseits unbedingt einen Weg zur Brücke bahnen. Ich musste sie einfach erreichen.

Die Sicherheitsbeamten erklärten mir ferner, dass es absolut verboten sei, auf dem Highway 101 mit dem Rad zu fahren. „Gut zu wissen“, überlegte ich mir, „dass offenbar 99% meiner Fahrzeit der vergangenen sieben Tage und auch die empfohlene Radroute illegal gewesen sind.“

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So versucht ich auch war, auf die Route 101 zurückzukehren, um rasch meine Zieldestination zu erreichen, so glücklich war ich, statt dessen lieber Vernunft walten zu lassen.
Denn nur kurz zuvor hatte ich eine grausige Erfahrung gehabt, bei der ich auf der Mittelspur zwischen zwei Autos gefangen war – und die Tatsache, dass auch von hinten Autos angebraust kamen, machte die Sache nicht gerade besser. „Du musst hier runter, Timo“, schwor ich mir.
So musste ich damit leben, einen langen und steilen Umweg in Kauf nehmen zu müssen.

Der Verkehr war es schließlich auch, der mich – nach meiner unvergesslichen „Zieleinfahrt“ – dazu zwang, von meinem Plan, bis vor meines Kumpels Haustür zu fahren, abzusehen.
Es hätte einfach wenig Sinn gemacht, sich weiterhin bei Dunkelheit dem Risikofaktor Verkehr auszusetzen. So gelang es mir, das Kapitel dieser Radreise, die vor allem in der letzten Woche enorm stressig war, mit angenehmen Erinnerungen zu schließen.

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Das galt umso mehr, als ich in Palo Alto trotz meiner (irrsinnigen, aber zur Gewohnheit gewordenen…) Ankunftszeit herzlich wilkommen geheißen wurde.

Als ich ins Bett sank, dachte ich kurz daran, an den Halbitaliener aus Seaside zurückzudenken, der mir prophezeit hatte, dass es mir ohnehin nicht gelingen würde, San Francisco zu erreichen. Bis mir schließlich einfiel, dass er die Gedanken nicht wert war.

Morgen schon werde ich in ein Flugzeug steigen, um zurück nach New York City zu fliegen. Sechs Stunden wird der Flieger für die Strecke benötigen.
Es wird – mit meiner Erfahrung im Gepäck – einerseits eine Schmach sein, zu erleben, wie leicht, wie locker, es doch sein kann, von einer Küste der US an die andere zu gelangen.
Andererseits wird es sicher auch ein Stückweit faszinierend sein, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass David und ich auf unseren Fahrrädern diese Distanz zurückgelegt haben. Eine Distanz, die dem Äquivalent von sechs Flugstunden in einer Boeing entspricht.

Der Vierzeiler des Tages:
Keine Spur von Anstrengung, Müdigkeit, „Schmerz“;
wenn der Ort, den dir deine Vision erbracht;
Direkt vor deinen Augen zum Leben erwacht;
Einfach nur überwältigende Freude, es lacht das Herz!

Die Frage des Tages:
Wenn man in San Francisco unschlüssig ist, ob man auf der Straße oder dem Bürgersteig fahren soll, und dann kommt ein aggressiver Mann an, der überemotional brüllt:
„Gibt es einen Grund, dass du hier auf dem Bürgersteig fährst? Das ist verboten!“ – und dieses genau die Information ist, die du benötigt hast; fühlt sich der Pöbler dann persönlich in seiner Würde verletzt oder auf ironische Weise attackiert, wenn man ganz geschmeidig sagt: „Thanks a lot – that is exactly what I wanted to know!“ – und ähnlich geschmeidig davonradelt?

Tourdaten:
Start: Cloverdale (7:25 Uhr)
Ziel: San Francisco/San Mateo
Distanz: 190 Kilometer
Gesamtzeit: 16:25 Stunden
Fahrzeit: 9:15 Stunden

4 Kommentare zu “Am Ziel von Tour & Traum (Tag 78)

  1. Einfach großartig!
    Großen Respekt 🙂
    Gruesse aus Göttingen
    Robert
    und dem gesamten Team von SEHENSWERT – Brillen&Kontaktlinsen

  2. Top, Timo, ganz großes Kino!!!

    Bin wirklich beeindruckt. Schade, dass die Tourenblogs sich jetzt dem Ende zuneigen, aber schön, dass Du dann endlich bald wieder da bist!!

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