Ein Hauch von Renn-Feeling (Tag 56)

Für einen kurzen Moment fühlte ich mich wie ein waschechter Rennfahrer: Der Fahrtwind rauschte an meinen Ohren vorbei; der Tacho hatte soeben die 75 Stundenkilometer durchbrochen; und im Unterlenker raste ich ähnlich schnell ins Tal hinab, wie mein Adrenalinspiegel in die Höhe. Ja: Kurzzeitig wähnte ich mich tatsächlich auf meinem Rennradsattel.

Dies sollte sich jedoch schlagartig ändern: Es war das Schnattern der Laschen meiner Packtaschen im Wind, dass mich aus meinen Rennrad-Träumen riss – und daran erinnerte, dass ich auf einem voll beladenen Reiserad unterwegs war.
„Bitte, meine lieben Freunde, bitte verfangt euch nicht zwischen meinen Speichen!“, flehte ich die Laschen an. Meine Bitte wurde erhört. Und so kamen mein Reisepartner David und ich am frühen Abend sicher in unserem Zielort Missoula an.

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Rückblickend betrachtet wäre es auch ziemlich respektlos gewesen, mit dem Gefühl, ein Rennradfahrer zu sein, in dieses Kleinstädtchen hinabzubrausen. Denn schließlich befindet sich in Missoula der Sitz der „Adventure Cycling Association“ (ACA) für Tourenfahrer, auf deren Karten wir phasenweise unterwegs sind. Und genau genommen ist diese ACA-Organisation auch der Hauptgrund dafür, weshalb David und ich den Extra-Schlenker gen Süden unternommen haben: Wir wollen uns hier jene beiden Kartenabschnitte kaufen, die uns zur Westküste führen werden.

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Man beachte bei diesem sowie beim übernächsten Foto die Form der Büsche...

Bevor wir die 30 Kilometer abwärts nach Missoula genießen konnten, mussten wir jedoch gegen die Hitze und einige Höhenmeter ankämpfen. Diese Umstände führten dazu, dass dem Trinkwasser-Auffüllen eine besondere Bedeutung zukam – verdrücken wir doch an warmen Tagen gemeinsam mehr als 20 Flaschen.
Und wo tut man dies offenbar in Amerika, wenn meilenlang am Highway nichts anderes zu finden ist – wie mir David anschaulich demonstrierte?

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Aber natürlich doch: im Casino! Der Casinobetreiber füllte bereitwillig – und zwar wohlgemerkt mit Wasserflaschen aus dem Kühlschrank – unser (Über)Lebenselixier nach. Und zugleich ließ er mich abermals nachdenken über die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland, wo ein solches Szenario (oder vielmehr: die Selbstverständlichkeit dieses Szenarios) eher untypisch gewesen wäre.

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Ein gravierender Unterschied etwa ist der Standpunkt: Denn während man in Deutschland davon spricht, „voll und ganz hinter“ einem Freund zu stehen, heißt es hier „right in front of“ him. Daraus ergibt sich, dass man auf der Auslandsreise genau darüber Bescheid wissen sollte, wo man sich hinzustellen hat, wenn man jemanden zu unterstützen gedenkt.
Die richtige Anordnung muss man auch in der Anredezeile eines formalen Briefes beachten: In Deutschland würde man zunächst die Frauen, wie etwa in der Formulierung „Sehr geehrte Damen und Herren“, ansprechen, in den USA jedoch „Dear Sir or Madame“ schreiben.

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Ein sprachlicher Schmankerl, den ich aufgeschnappt habe und der mir gefallen hat, lautete ferner:
„That is kind of kind of him I guess!“
Irgendwie doppelt erschien auch mein Kommentar, mit dem ich Bezug zu der Tatsache nahm, dass David das bessere Handy besitzt: „Well: My phone is probably not as much of a smart phone/smartphone as your  smartphone/smart phone!“, musste ich eingestehen.
Stark finde ich zudem die Tatsache, dass hier kleine Gegenstände, Tiere – und, ja, manchmal sogar Frauen – als „guys“ bezeichnet werden. So fragte David neulich drei Radfahrerinnen: „So where are you guys heading?“

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Ungläubig die Stirn runzeln musste ich indes, als eine Campingplatzbetreiberin doch tatsächlich das Folgende behauptete – und damit ungewollt einen Brüller über ihre Lippen brachte:
„Well“, sagte sie, „the mosquitos are quite friendly today!“
Mosquitos? Friendly? Wie? Vielleicht genau so „friendly“ wie Hurrikans, Schwerverbrecher und Säbelzahntiger?
„Wie meint die gute Dame das?“, schoss es mir durch den Kopf.

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Mein persönliches sprachliches Highlight lieferte allerdings David in einem Gespräch über lustige Ortsnamen. Wie bereits mehrfach erwähnt, fallen in diese Gruppe unter anderem die Ortschaften Gackle, Hazelton und Circle.
„But Gackle“, stellte David trocken fest, „is certainly chief of that group!“
Dass eines unserer nächsten Zwischenziele mit dem Namen „Walla Walla“ die Gruppe um ein weiteres Mitglied bereichern wird, klingt plausibel. Meine Nachfrage an David, ob Walla Walla dann fortan der neue Gruppenchef (oder zumindest Vizepräsident) sein werde, bedarf aber noch einer Antwort.

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Unter dem abendlichen bewölkten Himmel in Missoula angekommen, gönnten wir uns ein Hotel. Bei 35 Dollar pro Nase inklusive Frühstück mussten wir praktisch zuschlagen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass uns für die letzte Nacht im Zelt je 22 Dollar abgeknüpft worden waren.

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Ähnlich angetan wie zuvor von meinem neuen Geschwindigkeitsrekord war ich von der Tatsache, dass das Hotel gar über einen Schwimmbecken sowie eine Whirlpool verfügte. Zwar musste ich mich damit abfinden, dass – wie ein Hinweisschild verkündete – Schusswaffen und Haustiere in dem Pool verboten waren. Ich nutzte aber dennoch die Gunst des Augenblicks, um nach einer warmen und welligen Etappe zu entspannen. Und wenngleich es leider keine Beinmassage gab, so durfte ich mich während dieser Regenerationsmaßnahme für einige Minuten dennoch so fühlen wie – ein waschechter Radrennfahrer.

Der Vierzeiler des Tages:

Wir sind wie Falken Täler hinabgeglitten;
haben wie Terrier die Pedale malträtiert,
und erst irgendwann später realisiert:
„Ups, es waren ja Reiserader, auf denen wir voranschritten.“

Die Frage des Tages: Mal – natürlich rein hypothetisch – angenommen, ein deutscher Tourist würde am Abend ein Swimmingpool in einem Hotel in Missoula aufsuchen. Im Whirlpool sitzend, wundert er sich darüber, wo seine Zimmerkarte (=Schlüssel) ist, die er doch – unfassbar sicher – in der reißverschlusslosen Tasche seiner Badehose verstaut hat.
Nach einigem Suche erspäht er die Karte schließlich auf dem Grund des Hauptschwimmbeckens, in welchem er zuvor einige Bahnen gedreht hatte und in welches er nun nolens volens zurückkehren muss, um die Karte zu ertauchen.
Als wie verpeilt wäre diese Aktion dann – auf einer Skala von 1 – 10 – einzuschätzen?
(Wie gesagt: alles rein hypothetisch…)

Tourdaten:
Start: Polson
Ziel: Missoula
Distanz: 114 Kilometer
Gesamtzeit: 8:55 Stunden
Fahrzeit: 5:05 Stunden

2 Kommentare zu “Ein Hauch von Renn-Feeling (Tag 56)

  1. Also rein hypothetisch würde ich behaupten: Das klingt ganz stark nach einem typischen ‚Timo‘ 🙂 deshalb und weil du sie ja am Ende sogar wiedergefunden hast ist das für mich ganz klar nur ne 1!
    Wundert mich ehrlich gesagt, dass wir sowas nicht schon viel öfter gelesen haben 😀

  2. ;-D Was heisst hier bitte „wiedergefunden“? Die Karte war nie weiter als 10 Meter von dem guten Touristen entfernt…:-D
    Dass ICH vergleichbare Situationen noch nicht oefter gebracht habe, ist fast schon besorgniserregend…nungut: Von manchen berichte ich ja (noch…) nicht – aber allein schon fuer die Tatsache, dass ich mit zwei Kreditkarten losgefahren bin, und sie immer noch beide bei mir habe, verdiene ich meiner Meinung nach schon einen Orden…

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